6
Mai
2012

ein reichlich komischer wahlabend

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Das Beste ganz am Anfang: Francois Hollande ist neuer französischer Präsident. Wenn die Linke die Parlamentswahlen im Juni gewinnt, hat die heutige Wahl das Potenzial, die Europäische Union umzukrempeln. Anstelle der radikalen Sparkurse könnte die Frankreich-Wahl der Hebel für eine Wende in der Union sein, die in Richtung Investitionspolitik geht und neoliberale Dogmen, Stichwort Austeritätspolitik und Sozialabbau, über Bord wirft. Aber das hab ich hier schon beschrieben, genug davon.

Ich bin heute auf Verdacht ins Institut Francais am zentralen Taksim-Platz gegangen in der Hoffnung, dass dort irgendwas Wahlmäßiges passiert. Und es war fast ein bißchen, wie in einem sozialistisch dominierten französischen Dörfchen. Die Wahlzellen für die AuslandsfranzösInnen in Istanbul waren in einer Galerie des Instituts, im Innenhof war schon um fünf am Nachmittag gespannte Stimmung und politisieren an allen Tischen. Um halbsieben verliest der Wahlleiter das lokale Ergebnis: 72% der knapp 2.000 WählerInnen haben Hollande gewählt. Ein paar wenige Konservative sind abgezogen, als über die Smartphones und belgische Nachrichtenportale klar war, dass Sarkozy auch daheim verlieren wird und den Elysee-Palast verlassen muss. Dann, zwei Stöcke tiefer, ein Kinosaal gepackt voll mit Menschen, auf 20 Uhr hinfiebernd, auf die offizielle Verkündung des Ergbnisses und auf die Berichterstattung von France 2 wartend.

Der rote Teppich zum Elysee wird grafisch ausgerollt, ein Bild von Hollande erscheint, darunter steht 51,8 – ohrenbetäubender Jubel rundum. Neben mir sitzen Bernadette und Jacques aus Lille, einer sozialistischen Hochburg. Sie sind 2007 für Segolene Royal gelaufen, Jacques schon mit 16 für Lionel Jospin Klinken geputzt, als der den Einzug in die zweite Runde verpasste, weil er hinter Jean Marie Le Pen zurückblieb. Darauf folgte, notgedrungen, der Wahlaufruf der SozialistInnen für Jacques Chirac in der zweiten Runde, ein Trauma für die französische Linke. Für die beiden FranzösInnen ist Hollandes Abend ein Triumph, der erste große politische Sieg, seitdem sie sich engagieren. Und zwar nicht wegen, sondern trotz Hollande – den finden sie hölzern, ein bißchen zu nachgiebig und nicht sehr charismatisch. Bernadette ist bei den sozialistischen Vorwahlen für Martine Aubry gelaufen, die sei linker und kämpferischer. Nicolas und Jean (!) sind aus Strasbourg mit dem Rad nach Istanbul gefahren, sie wollten heute den Wahlsieg Hollandes im Institut Francais feiern, sagen sie. Der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Und Fabienne neben mir ist Zentristin, aber sie bejubelt vor allem die klaren Ansagen der SozialistInnen am Bildschirm zur Anbiederung Sarkozys an die extreme Rechte. Der habe an den Grundfesten der französischen Verfassung und der Republik gesägt, sagt sie. Neben ihr sitzt Richard, der gerade ein Erasmus-Semester in Istanbul absolviert. Der Biologe ist eigentlich Grüner, hat aber viele Stunden damit verbracht, seine französischen FreundInnen via Skype und Facebook zu überreden, am Sonntag zur Wahl zu gehen und das aus seiner Sicht geringere Übel zu wählen.

Reichlich komisch die Berichterstattung auf France 2, kaum zu glauben, dass ich den ORF mal vermisse. Da ist zwar von Rachida Dati über Segolene Royal und Laurent Fabius bis zu Manuel Valls, der als Premierminister gehandelt wird, die allererste Reihe der SpitzenpolitikerInnen vertreten, aber die Live-Einstiege sorgen nur für Lacher. Ein eigenes „Moto Sarkozy“ verfolgt wie bei der Tour de France das Auto des scheidenden Präsidenten von der Abschlussrede in den Elysee-Palast, dazu erklärt ein Live-Reporter auf dem Rücksitz des Motorrads den Weg und die Verkehrshindernisse. In Tulle, wo Hollande seine Rede hält, ist ein Reporter vor einer verschlossenen Tür, hinter der Hollande mit seinen Vertrauten anstoßt und kündigt miuntenlang an, dass der gewählte Präsident in zwei, eineinhalb, einer, nein doch fünf Minuten aus dem Raum herauskommen wird. Am Place de la Bastille interviewt ein Moderator reichlich besoffene Kinder, die den Wahlsieg feiern.

In der Rue Rivoli stört ein Reporter einen sichtlich genervten Yannick Noah, der eigentlich gerade seine Instrumente ins Auto packt, um zu seinem Konzert bei der Siegesfeier zu fahren. Der ehemalige Tennisspieler sieht aus, als wär er gerade in der ersten Runde von Roland Garros ausgeschieden. Ein anderer Außenmoderator erwischt Hollandes Sohn Thomas, als Papa ihn das erste Mal nach Bekanntwerden der Zahlen anruft (Totale auf „Papa“ und einen grünen Hörer am Screen). Dann sieht man Thomas „Salu, ca va“ und zehn Mal „Oui“ sagen und ein paar Tränen zerdrücken. Das ganze hat die Optik und Qualität eines Geiselvideos. Und dann fragt zur Krönung die Moderatorin im Studio noch Segolene Royal, die Ex-Kandididatin und Ex-Frau von Francois Hollande, wie sich ihr Ex-Mann persönlich verändert habe und was das mit seiner neuen Lebensgefährtin, der Journalistin Valerie Trierweiler zu tun habe. Neben mir jaulen Bernadette und Jacques auf.

Schließlich, Hollandes Rede. Man kann einem Anti-Obama, einem intellektuellen Bürokraten im positiven Sinn, einfach keine Obama-Rhetorik in den Mund legen. Tut man es doch, fühlt das dazu, dass die gerade noch begeisterten Linken im Istanbuler Institut Francais das Lachen kaum zurückhalten können. Aber eigentlich ist das ja das beste Resume des Wahlabends: Ein reichlich uncharismatischer, blasser Linker schlägt den rechten Showman in Zeiten der Krise und der Überpersonalisierung der Politik. Das macht nämlich auch die Mehrheit substanzieller, als sie aussehen mag.

luxus schwimmengehen

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Vor ein paar Tagen wollt ich Schiffskapitän werden. Jetzt find ich Stadtplaner total toll. Istanbul kitzelt Berufswünsche aus mir heraus, die ich bisher nie gehabt hab und denen ich nicht nachgehen werde. Warum das Ganze? Heute, eine eineinhalbstündige Fahrt ans Meer, nach Sile. Am Schwarzen Meer kann man sich im Gegensatz zum Bosporus bedenkenlos ins Meer werfen, ohne zwischen Quallen und allerlei Dreck herumtauchen zu müssen. Und auf dieser eineinhalbstündigen Fahrt hab ich gemerkt, dass diese Stadt irgendwie nie aufhört. Irgendwo müssen die 18 Millionen Menschen ja auch wohnen.

Aber was genau hat ein Mensch im ländlichen, aufgrund des Traumstrands ein bißchen touristischen Sile mit einem Menschen im zentralen, völlig überlaufenden Beyoglu oder in Kadiköy zu tun? Die leben beide in Istanbul aber ihre Kinder werden nicht in die gleiche Schule gehen, sie leben in völlig unterschiedlichen Regionen mit völlig unterschiedlichen Bedürfnissen und unter unterschiedlichen Umständen, baulich, verkehrstechnisch, nahversorgungsmäßig, soziokulturell.

Das unterscheidet Istanbul natürlich nicht von kleineren Großstädten. Aber soziale Mobilität, die gerade die Zentren der Welt für sich in Anspruch nehmen, setzt physische Mobilität voraus. Die ist bei den hiesigen Entfernungen zeit- und kostspielig. Jetzt ist es für MitteleuropäerInnen natürlich leicht, in Istanbul herumzukommen, finanziell tut das alles nicht wirklich weh. Aber die 25 Lira (11 Euro), die die Fahrt mit verschiedenen Verkehrsmitteln da raus zum Schwarzen Meer heute gekostet hat, sind für eine vierköpfige Familie ein gutes Zehntel des Durchschnittseinkommens in der Türkei. Da ist dann im Schwarzen Meer schwimmen schon eine ziemliche Luxusveranstaltung.

Heißt auch: In Istanbul leben zig Millionen Menschen zwar am Meer, können aber – außer, wenn sie sich dem Bosporus oder dem Marmarameer aussetzen wollen, in dem man hier eigentlich nicht planschen sollte – nicht leistbar ins kühle Nass, das sie umgibt, wie kaum eine andere Großstadt der Welt. Ein Fall für die Stadtplanung, für die Sozialpolitik und für die Verkehrspolitik. Drei Felder, in denen ich mich (noch) nicht auskenn. Aber als zukünftiger Großstadt-Bewohner gelobe: Ich les mich ein. Wie Menschen von A nach B kommen halt ich nämlich spätestens seit heute für eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit.
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